Opernführer für Anfänger

Die Welt der Opern verständlich erklärt

von Petra Roeder

Update: 13. November 2011

Inhalt

I. Aida von Giuseppe Verdi
II. La Bohème von Giacomo Puccini
III. Carmen von George Bizet
IV. La Didone von Francesco Cavalli
V. Dido und Æneas von Henry Purcell
VI. Die Entführung aus dem Serail von Wolfgang Amadeus Mozart
VII. Die Kluge von Carl Orff
VIII. Mathis der Maler von Paul Hindemith
IX. l´Orpheo von Claudio Zuan Antonio Monteverdi
X. Orfeo ed Euridice von Christoph Willibald Ritter von Gluck
XI. Pierrot lunaire von Arnold Schönberg
XII. Rinaldo von Georg Friedrich Händel
XIII. Le Rossignol von Igor Fjodorowitsch Strawinsky
XIV. Das Schloß von Aribert Reimann
XV. Ein Sommernachtstraum von Benjamin Britten
XVI. Tristan von Richard Wagner
XVII. Wozzeck von Alban Berg
XVIII. Die Hamlet-Maschine von Wolfgang Rihm

 



II. La Bohème

von Giacomo Puccini

Puccini lebte von 1858 bis 1924, also Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts.

Die mitwirkenden Personen seiner Oper sind:

Mimì, Musette, zwei Frauen,
Rodolfo, Dichter,
Marcello, Maler,
Schaunard, Musiker,
Colline, Philosoph,
Parpignol, Händler oder Kaufmann,
Benoit, Vermieter,
Alcindoro, Staatsrat,
ein Zöllner,
ein Sergeant der Zollwache.
Außerdem spielen Studenten, Bürgerinnen und Bürger und Soldaten mit.


Die Handlung spielt um 1830 in Paris, an Weihnachten beginnend. Genauer Ort in Paris ist das so genannte Quartier Latin, ein Viertel, in dem vor allem Künstler und Studenten lebten.

Die Handlung ist beeinflusst von einem Roman Henri Murgers, der 1851 gedruckt worden war. Der Begriff Bohème geht auf ”Bohémien” für ”Böhme, Zigeuner” zurück. Studenten, Künstler, alle, die nicht nach bürgerlichen Vorstellungen lebten, aber von den Bürgern der Jahrhundertwende aufgrund ihrer Kunstwerke und Bücher verehrt wurden, sind Bohémiens.

Puccini hat mit dieser Oper etwas neues geschaffen. Einzelereignisse und die Empfindungen der handelnden Personen stehen im Vordergrund, nicht eine durchgehende Handlung. So wurde ”La Bohème” lyrische Oper und nicht dramatische Oper genannt. Dramatische Oper kommt von Drama, das ist Handlung, Geschehen. Lyrik dagegen ist persönliches Erleben, Gefühl. Jede auftretende Person wird musikalisch beschrieben und erhält durch die Musik einen bestimmten Charakter. Außerdem werden mit der Musik der jeweilige Raum, in dem die handelnden Personen sind, und Ereignisse in dem Raum beschrieben. Aber nicht durch eine Bestandsaufnahme der vorhandenen Gegenstände, sondern durch Momentaufnahmen der Stimmung, die in dem Raum vorhanden ist. Du kennst solche Momentaufnahmen auch. Manchmal kommst Du nach Hause und weißt sofort: hier ist Ärger und Stress angesagt. Oder Freude. Um solche Momentaufnahmen zu erreichen, musste Puccini einiges ändern, das bislang für Komponisten üblich war. Seine Neuerungen sind: unruhiger, sich ständig ändernder Rhythmus, kein erkennbares Metrum, sich ständig ändernde Tonart. Rhythmus ist die Folge von Notenwerten, Viertel-Achtel-Achtel-Viertel - lang-kurz-kurz-lang - zum Beispiel. Metrum ist die Folge von betonten und unbetonten Takten. Es gibt verwandte Tonarten, Tonarten die zusammengehören und zwischen denen gewechselt werden kann, ohne dass es fremd wirkt. Puccini wechselt die Tonarten aber ohne das Verwandtschaftsverhältnis. Und er wechselt die Tonart plötzlich. Es ist also nicht möglich zu sagen, der Teil steht zum Beispiel in C-dur und der Teil in A-dur. Aber nur so kann er Gefühle ausdrücken, die sich sehr schnell ändern. Es gibt bei Puccini Themen und Motive, die für ein bestimmtes Gefühl und für eine bestimmte Situation stehen. Als Erinnerung für das Gefühl und für die Situation kommen sie immer wieder. Erinnerungsmotive also. Die Themen und Motive werden aber auch zerteilt und neu zusammengesetzt. Wie bei einem Mosaik. So werden Splitter eines Gefühles mit einem anderen Gefühl verbunden und ergeben eine neue Momentaufnahme. Arien und Rezitative findest Du bei La Bohème nicht, das war insgesamt für die Oper nicht mehr üblich.

Es ist kurz vor Weihnachten. Marcello, Rodolfo, später auch Colline, sind hungrig im ungeheizten Zimmer zusammen. Arbeiten ist durch Hunger und Kälte nicht mehr möglich. Die Freunde nehmen ihre Armut gelassen und humorvoll. Mit viel Witz wird ein Drama Rodolfos verbrannt, um wenigstens ein bisschen Wärme zu erleben. Dann kommt Schaunard, der durch einen interessanten Auftrag zu Geld gekommen ist. Er wurde gebeten, durch sein Musizieren den Papagei des Nachbarn zu Tode zu bringen. Die vier Freunde teilen alles und freuen sich, als hätten sie die größten Reichtümer der Welt gewonnen. In die Begeisterung kommt der Vermieter, der an die noch nicht bezahlte Miete erinnern will. Die Freunde bitten ihn, sich zu setzen und ein Glas Wein zu trinken. Schnell ist Benoit leicht betrunken und redefreudig. Die Freunde haben nur ein Ziel: zu erreichen, dass sie keine Miete zahlen müssen. Sie erreichen das auch sehr geschickt. Man hat Benoit in Gesellschaft einer jungen, attraktiven Dame gesehen. Aber er ist zum einen ein alter Herr und zum anderen verheiratet. So können die Freunde die moralisch Entrüsteten spielen, ihren Vermieter unter Schimpf und Schande hinauswerfen und müssen keine Miete bezahlen, denn ihr Vermieter ist erpressbar geworden.

Die Freunde beschließen, Essen zu gehen. Rodolfo bleibt in der kleinen Wohnung zurück, weil er noch etwas schreiben muss. Seine Wohnungsnachbarin Mimì - eigentlich heißt sie Lucia - klopft an die Tür. Ihre Kerze ist ausgegangen, ob Rodolfo sie wieder anzünden kann. Die Hausflure waren früher ohne Licht. Um etwas sehen zu können, die Tür aufschließen zu können, hatten die Menschen Kerzen. Mimì ist krank, heute nennt man ihre Krankheit Tuberkulose, ausgelöst zum Beispiel durch feuchte und kalte Wohnräume. Arme Menschen waren oft daran erkrankt. Zum einen, weil sie sich oft kein Brennmaterial für ihre Wohnungen leisten konnten, zum anderen, weil man sie in feuchten und zugigen Wohnungen wohnen ließ. Treppensteigen belastet Mimì sehr. Und sie und Rodolfo wohnen ganz oben im Haus. So sinkt sie zunächst einmal ohnmächtig um. Rodolfo hilft ihr und verliebt sich in sie. Ihm bleibt nicht verborgen, dass sie sehr krank ist. Mimì scheint das nicht zu wissen. Als es Mimì besser geht und ihre Kerze angezündet ist, lässt sie ihren Schlüssel liegen. Rodolfo lässt ihn schnell verschwinden, außerdem lässt er auch seine Kerze ausgehen. Im dunklen Raum suchen die beiden nach Mimìs Schlüssel und nutzen die Möglichkeit, sich zu berühren. Als Liebespaar verlassen sie den Raum und treffen auf Colline, Marcello und Schaunard.

Zusammen gehen sie in das Viertel, in dem sich vor allem Bohèmiens aufhalten. Auch Händler und Kaufleute versuchen hier ihr Glück. Ein buntes, lautes Treiben. Die vier Freunde und Mimì kaufen, bummeln, fühlen sich wohl und landen schließlich im Café Momus um zu essen. Ungewöhnlich ist für uns der Tonfall, in dem mit den Kellnern gesprochen wird. Um die Jahrhundertwende noch waren das Menschen dritter Klasse, Menschen die nichts zu sagen aber zu arbeiten hatten. Musette und Alcindoro kommen dazu, setzen sich an den Tisch neben die Freunde. Musette ist Marcellos Liebe. Sie halten es allerdings nicht lange miteinander aus. Alcindoro läuft Musette nach, völlig in sie verliebt und bereit, alles für sie zu tun. Musette aber spielt mit ihm nur. Sie nennt ihn Lulu. Ihm ist ihr Verhalten peinlich, seine Melodie ist verhalten. Musette dagegen spielt. Marcello versucht, Musette nicht zu beachten und brabbelt vor sich hin. Sie legt alles darauf an, dass er sie beachten muss. Schließlich schickt sie Alcindoro weg, ihr neue Schuhe zu kaufen und schließt Marcello in ihre Arme. Marcello liebt sie noch immer und sie ihn auch. Nur können sie eben nicht lange zusammenleben. Die kleine Gruppe, die vier Freunde mit Mimì und Musette, verlässt das Viertel und hinterlässt Alcindoro die Rechnungen ihres Essens.

Mimì und Rodolfo halten es auch nicht lange miteinander aus. Rodolfo ist zu Marcello und Musette gegangen, die einen Auftrag außerhalb von Paris ausführen. Aber auch Mimì verspricht sich von Marcello Hilfe. Auch sie kommt zu der Gaststätte, in der Musette singt und Marcello malt. Marcello soll den unglücklich Liebenden Rat geben. Rodolfo verrät Marcello den wahren Grund, weshalb er mit Mimì nicht zusammen sein kann: er verschlimmert durch seine Armut Mimìs Krankheit. Mimì erfährt erst jetzt, wie schlimm es ihr geht. Und sie akzeptiert das Getrenntsein von Rodolfo.

Marcello und Rodolfo sitzen in der Dachwohnung zusammen. Diesmal sind ihre kaputten Beziehungen der Grund, weshalb sie nicht arbeiten können. Sie trauern ihren Partnerinnen nach. Colline und Schaunard tragen wenig zur Verbesserung ihrer Stimmung bei. Und dann kommen die geliebten Frauen in die kleine Wohnung. Dem Sterben nahe hat Mimì Musette gebeten, sie zu Rodolfo zu bringen, was diese auch getan hat. Und sie tut noch mehr: sie gibt ihren Schmuck, um für Mimì Arznei und Arzt holen zu können. Colline gibt seinen Mantel in der gleichen Absicht. Aber für Mimì kommt jede Hilfe zu spät. im Kreis der vier Freunde und in Anwesenheit von Musette, die die Arznei zubereitet, stirbt sie.

Die vier Freunde machen sich gegenseitig groß und genial. Witz, Intelligenz, Humor und Schlagfertigkeit fehlt keinem. Mit ihrer Armut gehen sie gelassen um, mit erarbeitetem Geld so, als könnten sie sich alle Tage ein reiches Leben leisten. Mit ihrem Alltag also kommen sie allerbestens klar, mit Liebe, Krankheit und Tod dagegen überhaupt nicht. Das wirft sie aus der Bahn, weil das nicht einfach zu durchschauen ist. Für die Liebe haben sie vor allem beißenden Spott übrig, obwohl sie sich alle nach einer festen und gesunden Partnerin sehnen. Zur bürgerlichen Ehe aber eignen sie sich nicht und die Jahrhundertwende kannte keine andere Möglichkeit.

Mimì ist eine Näherin, einsam, verträumt, todkrank. Sie träumt von einem besseren Leben und von der großen Liebe, ist aber auch nicht in der Lage, ihre Träume zu verwirklichen. Sie ist zu schwach und zu lebensunerfahren dazu. Von ihrer Krankheit weiß sie nicht sehr viel. Für sie scheinen die häufigen Schwächeanfälle und der Husten normal zu sein. Und sie hat zu wenig Kontakt zu anderen, um aus ihrer Unerfahrenheit herauszukommen.

Musette ist schön und weiß das auch. Sie spielt mit ihrer Wirkung auf Männer. Im entscheidenden Moment aber zeigt sie ihr goldenes Herz und beweist ihre zuverlässige Freundschaft. Sie hat - ganz im Gegensatz zu ihrer sonstigen Schönheit - eine etwas unschöne Stimme, weshalb sie den Namen Musette, das heißt Dudelsack, erhalten hat.

Benoit ist eigentlich ein braver Bürger, der aber dümmlich in jede Falle der Bohèmiens tappt. Er hält sich für einen tollen Hecht und wird genau dadurch erpressbar und verliert seinen Anspruch auf die Miete der Bohèmiens.

Alcindoro ist aufgeblasen und eitel. Und fühlt sich wesentlich jünger als er ist. Er glaubt, er könne der wirklich jungen Musette den Hof machen, das heißt ihr nachlaufen. Er besteht auf gutes Benehmen und hat Angst davor, zum Gespött der Leute zu werden. Das allerdings hat er bereits erreicht, weil er Musette nachläuft. Musette zeigt ihm deutlich, dass sie ihn albern findet. Er findet ihr Verhalten peinlich und kann dennoch nicht anders als mitzuspielen.

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VIII. Mathis der Maler

von Paul Hindemith

Hindemith lebte von 1895 bis 1963, also im 20. Jahrhundert.

Die Mitwirkenden seiner Oper sind:

Mathis, ein Maler im Dienst des Kardinals von Mainz
Schwalb, ein Bauer und ein führender Aufständler
Regina, seine Tochter
Sylvester von Schaumburg, ein Offizier des Truchseß
Erzbischof Albrecht, Kardinal und Erzbischof von Mainz
Riedinger, ein reicher Bürger aus Mainz und Anhänger Luthers
Ursula, seine Tochter
Capito, Rat des Kardinals und Anhänger Luthers
von Pommersfelden, Domdechant von Mainz
Truchseß von Waldburg, Befehlshaber über die Heere gegen die Bauern
Der Graf von Helfenstein, stumme Rolle
Der Pfeifer des Grafen
Gräfin Helfenstein.

Außerdem Reiter, Bürger, Geistliche, Studenten, Dienerschaft, Landsknechte, Bauern.

Die Oper spielt zur Zeit des Bauernkriegs um 1524 bis 1526, das letzte Bild etwas später, in und um Mainz.

Hindemiths Musik ist einerseits ansprechender Klang, der ungeachtet der Vorbildung die Herzen der Zuhörer erreicht und andrerseits ein komplexes Gebilde verschiedener Formelemente, die er aus vielen Jahrhunderten Musikgeschichte zusammengetragen hat. Seine Oper ist eng verknüpft mit dem Gemäldekomplex Isenheimer Altar. Der Schöpfer des Altars, Mathis Grünewald, ist die Hauptperson der Oper, außerdem werden drei Bilder des Altars szenisch in die Oper aufgenommen: das Engelkonzert aus dem Weihnachtsbild, damit wird die Oper eingeleitet, die Versuchung des heiligen Antonius' und der heilige Antonius beim Einsiedler Paulus. Diese beiden Bilder werden im sechsten Bild der Oper umgesetzt. Der Isenheimer Altar war vor den Bauernkriegen gemalt worden. Dennoch gestaltet Hindemith die Entstehungsgeschichte des Gemäldekomplexes während der Bauernaufstände.

Das Engelkonzert bildet das Vorspiel der Oper. Im Gemäldekomplex eingebettet in die Verkündigung der Geburt, die Auferstehung und die Geburt Christi singen drei Engel zur Ehre Gottes, sich auf Instrumenten begleitend. 1605. etwa hundert Jahre nach Fertigstellung des Isenheimer Altars, wurde in Mainz das Lied "Es sungen drei Engel ein' süßen Gesang, der in dem hohen Himmel klang" geschrieben. Die Melodie dieses Liedes greift Hindemith in seiner Oper auf. Zunächst natürlich im Engelkonzert. Und wieder ist ein Bezug der Oper zum Leben des Malers Mathis Grünewald hergestellt, wenn auch aus einer späteren Zeit gegriffen.
Eingebettet in einen schwebenden Klang, der durch lange Notenwerte und viele Überbindungen erreicht wird, spielt die Posaune, das biblische Instrument der Engel, das Lied "Es sungen drei Engel". Eine Überbindung bedeutet, dass zwei Noten durch Bindestrich oder Bindebogen aneinander geknüpft sind. Ist es die gleiche Tonhöhe, die angeknüpft ist, verlängert sich der Notenwert entsprechend.

Die Trompeten greifen das Lied der Posaune auf. Die Trompete hatte im Heer Signalfunktion. Und tatsächlich signalisiert sie auch hier einen Wechsel. Das Schwebende der Musik wird verlassen, die Musik belebt sich, als ob die Engel die bewegte Geschichte der Oper textlos vorerzählen. Erst in den allerletzten Takten des Vorspiels kehrt die schwebende Ruhe wieder ein durch den langgezogenen Schlussakkord.

Fast wie bei Ravel und Debussy flimmern die Streicher mit ihren Tremoli - das sind rasche Wechsel zwischen zwei Tönen - die Mittagshitze vor, in der Mathis Grünewald den Durchgang eines Antoniterhofs am Main ausmalt. Die Antoniter sind ein Bettelorden, die auch hautkranke Menschen, die an dem sogenannten Antonius-Feuer - der Mutterkornvergiftung - litten. Der Antoniterhof, den Mathis ausmalt, gehört zum Erzbistum Mainz. Mathis unterbricht seine Malertätigkeit. In raschen Wechseln, unstetem Rhythmus überdenkt er alle Pläne und Ideen, die er für sein Leben hat, ohne sich festlegen zu können. Die Musik bleibt ebenfalls ohne Festlegung. Voller Zweifel steigert er sich zu der Frage, ob er erfüllt habe, was Gott ihm aufgetragen hat. Der Sinn und Zweck seiner Arbeit ist ihm offenkundig nicht mehr bewusst, ebenso wenig seine Motivation, weshalb er malt. Die mittägliche Andacht der Antoniterbrüder unterbricht seine Unruhe. Zu einem rhythmisch etwas unregelmäßigen Gesang stolpern die Mönche in die Kirche zum Mittagsgebet. Mathis kommt nicht zur Ruhe, er hastet unruhig weiter in seinen Gedanken. Erst als Schwalb verletzt auftaucht, ist jedes Grübeln für Mathis zu Ende. Hier holt ihn die Realität ein in gleichmäßigem Metrum, aus dem Schwalb in seiner Todesangst ausbricht. Schwalb kommt erst zur Ruhe, als Mathis ihm erklärt, dass er im Antoniterhof sicher ist. Jetzt kann er sich auf langen Notenwerten ausruhen, getragen von einem friedlichen Klangteppich. Regina, Schwalbs Tochter, berichtet Mathis von den Verfolgungsjagden, weil sie sich für die Rechte der Bauern einsetzen.

Mathis versucht, die aufgeregte Regina zu beruhigen, so wie er Schwalb beruhigt hat. Regina wäscht sich am Brunnen der Antoniter und singt dabei ein Lied. Wieder hat Hindemith ein Lied aus der frühen Neuzeit in seine Oper eingeflochten. Mathis bringt Regina zum Träumen. Die Begleitung durch das Orchester wird weich und viele überbindungen verschleiern das Metrum. So wird selbst der Bericht, woher sie und ihr Vater kommen, zum nachdenklich-besinnlichen Bericht. Schwalb unterbricht seine Tochter so gehetzt wie zu Beginn und in harten Klängen. Voller Misstrauen gegen Mathis stellt er dessen Tun in Frage. Und trifft damit exakt Mathis´ Selbstzweifel. Mathis wird wieder unruhig, suchend, fragend. Aber nicht hart. Er ist schließlich mit Schwalb einer Meinung, dass es viele Möglichkeiten gibt, Gutes zu tun. Regina ändert das beinahe hymnische Duo von Schwalb und Mathis, in dem sie durch die ständige Wiederholung einer kurzen Tonbewegung die nahende Gefahr einhämmert. Mathis lässt sich nicht anstecken, er weiß jetzt, was er zu tun hat. Aufstrebende Melodieführung und der Rhythmus Viertel-Achtel - Viertel-Achtel in einem Dreier-Metrum zeigen seine Gewissheit. Viertel und Achtel sind Notenwerte, ein Metrum ist die Abfolge von Schwer und Leicht, ein Dreier-Metrum bedeutet drei Abfolgen, z.B. schwer-leicht-schwer oder schwer-leicht-leicht. Drei war im Mittelalter eine göttliche Zahl. Der Rhythmus Viertel-Achtel - Viertel-Achtel ist der Grundrhythmus vieler mittelalterlichen Gesänge zu frohen Anlässe.

Die Überzeugung, zu der Mathis gekommen ist, ist für und mit den Bauern zu kämpfen. Als erstes hilft er Schwalb und seiner Tochter zur Flucht.

Die Biographien über Mathis Grünewald können seine direkte Verwicklung in die Bauernaufstände nicht nachweisen, es scheint aber sehr wahrscheinlich.

Sylvester, der Schwalb gejagt hat und zunächst die Antoniter-Mönche zur Verantwortung für Schwalbs Entkommen ziehen will, ist ziemlich irritiert über Mathis, der die Antoniterbrüder verteidigt und offen zugibt, Schwalb geholfen zu haben. Seine Frage, wer Mathis ist, steht ohne instrumentale Begleitung offenda. Das Fragezeichen ist zu hören, während Sylvesters vorherige Aussagen harte Befehle waren. Mathis ist ruhig. Er weiß mittlerweile, wo sein Platz ist. Und offenkundig kennt er seinen Arbeitgeber gut genug, um von ihm Rückendeckung erwarten zu können. Und doch bleibt alles offen und kann sich jederzeit gegen Mathis wenden. Das weiß er. Die Instrumente schweben über dem Metrum durch überbindungen und Mathis bricht durch Duolen ebenfalls aus dem Metrum aus. Duolen sind drei Notenwerte, die in die gleiche Notenlänge wie zwei Notenwerte gepresst werden.

Sylvester verlässt Mathis mit seinem üblichen Pomp.

In Mainz herrscht buntes Treiben. Die neuen Lehren Luthers haben die Bevölkerung aufgewühlt, verunsichert, entzweit. Auch die Musik Hindemiths gibt das Durcheinander wieder, jede Gruppe hat ihren eigenen Charakter, was Artikulation, Rhythmus, Tonbewegung anbelangt.

Zunächst stellen sich alle Gruppen vor: die Katholiken bringen einerseits alles auf den Punkt, in dem ihre Instrumentalbegleitung taktweise und stimmenweise einen Ton wiederholt, andrerseits haben sie noch genug Phantasie und geistigen Spielraum, um Töne umspielen lassen zu können. Die Protestanten stellen alles in Frage, ganz ihrem Namen entsprechend, der direkt der Protestbewegung entnommen worden ist. Sie wandern ziellos von Ton zu Ton, dreschen bei Bedarf und je nach Wirksamkeit die vorangegangene Phrase noch einmal durch, fokusieren dann einen Tonausschnitt, kauen den bis zum Abwinken durch und kommen doch zu keinem klaren Zielton. Die Humanisten und Studenten versteifen sich über Takte auf einen Ton und beharren darauf rechthaberisch, gelegentlich brechen sie durch lebendigere Notenwerte und klangvolles Gestalten der sonst einstimmigen Begleitung in eine phantasievollere Welt aus.

Nach dem sich alle Gruppen vorgestellt haben, fallen sie über einander her. Auch die Frauen erreichen keine Versöhnung. So kommt der Kardinal mitten in die Streitsituation. Seine Begrüßung trieft von Ironie. Vor allem das Orchester scheint schallend zu lachen. Ironisch, getragen vom gleichen lachenden Rhythmus haha, bleibt auch die Erklärung zu der mitgebrachten Reliquie. Durch die kurzen Notenwerte erhält es auch etwas Aufgeregt sein, und durch die vielen überbindungen, in denen der Kardinal singt, wird das ganze sehr unstet, unklar. Hindemith zeigt hier durch seine Musik einen hin- und hergerissenen Kardinal, der sich sehr wohl im Klaren darüber ist, dass er die Unruhen in seinem Gebiet, die durch die Reformation Luthers und die Bauernunruhen begannen, nicht glätten kann. Dennoch knien alle vor der mitgebrachten Reliquie des heiligen Martin nieder, jedes Lachen, aber nicht jedes Herzklopfen, doch jede Unklarheit, alles Unstete, ruht beim Anblick der Reliquie. Dann aber kommt die Unruhe wieder auf. Die religiösen Parteien nehmen wieder jede für sich Stellung zu der Reliquie und fallen handgreiflich übereinander her.

Alle Ironie, alles Herzklopfen, jeder Streit ist vorbei, als der Kardinal in seinen Räumlichkeiten ist. Sein Domdechant, sein Rat, Riedinger, dessen Tochter und später Mathis sind hier versammelt. Die Beziehung zwischen Riedinger, Ursula und dem Kardinal ist eine herzliche, besondere, das Verhältnis zwischen Mathis und dem Kardinal ist ungetrübt, klar, herzlich. Eine klare Melodieführung, deutlicher Rhythmus, sonnige Stimmung - also keine dick aufgetragene, sondern eher spärliche Begleitung, Tonumspielungen etc. sprechen dafür. Die Personen, die beim Kardinal versammelt sind, haben alle nur ein Anliegen: Seelenfriede zu finden. Und alle haben sie eine ganz persönliche Sehnsucht, einem bestimmten geliebten Menschen näher kommen zu können. So flattert z.B. Ursulas Herz beim Eintritt von Mathis, wie die Streichinstrumente mit ihren Tremolie verraten.

Pommersfelden wendet die intime Sphäre, die in dem Gespräch zwischen Riedinger, Ursula, Kardinal Albrecht und Mathis entstanden war. Es wird gefährlich still, einzelne Herzklopfer untermalen die Drohung, die von Pommersfelden ausgeht. Er kündet Kardinal Albrecht den Sturz an, weil er sich zu offen und wohlwollend gegen die Anhänger Luthers verhält. Die ketzerischen Schriften des Augustiner-Eremiten Luther, die auch in Mainz schon weite Kreise gezogen haben, müssen verbrannt werden. Hastig, nervös verteidigt sich Kardinal Albrecht. Und beugt sich dem Willen Pommersfeldens, er lässt die Bücher Luthers verbrennen. Allerdings stellt ihn das vor das Problem, dass die Mainzer Bürger ihm dann kein Geld mehr geben, das auch an Mathis für dessen Kunst gebraucht wird. Das Dilemma für Kardinal Albrecht ist: entweder selbst zu fallen, oder die Mainzer Bürger zu verlieren. In jedem Fall ist auch Mathis der Leidtragende, weil er entweder seinen Auftraggeber oder seine Bezahlung verliert. Es muss sich also eine Lösung finden. In dieser Situation trifft Sylvester ein.

Aufgeregt berichtet Mathis dem Kardinal von seinem Plan, sich mit den Bauern für deren Rechte und Freiheit einzusetzen. Wieder steht der Kardinal in einem fürchterlichen Dilemma: sein Freund und Maler Mathis ist in Gefahr, hofft offen auf des Kardinals Unterstützung, die dieser ihm nicht gewähren kann, weil er sich und alle Anhänger Luthers dann ebenso in Gefahr bringen würde. Darum legt er bestimmt den Status quo fest. Das Orchester trägt die Bestimmtheit unruhig, gefährlich lauernd. Mathis begreift die Situation nicht. Er beharrt darauf, den Bauern helfen zu wollen. Der Kardinal wendet das Unglück mühsam ab, in dem er ein vertrauliches Beichtgespräch eines häretischen Menschen vortäuscht. Aber Albrecht und Mathis wechseln keine Worte mehr, als sie allein sind. Mathis hat sich fanatisch in seine Mission verrannt, sieht die Gefahr nicht, in die er sich und den Kardinal damit stürzt. Der Kardinal weist Mathis stumm zurück, das ist seine einzige Chance, dem fanatisch gewordenen Freund das Leben zu retten.

Capito schlägt eine Lösung aus dem Dilemma des Kardinals vor. Er gewinnt Riedinger für seine Idee und das ist wichtig, denn schließlich geht es um Riedingers Tochter und um sein Geld: um die Anhänger Luthers in Mainz zu retten und um dem Kardinal Geld für dessen Kunst zu geben, soll er Ursula heiraten.

Ursula steht vor einer schwierigen Entscheidung, denn sie liebt Mathis. Er aber kann sie jetzt nicht mehr lieben, er ist von seiner Mission, die Welt tatkräftig auf Seiten der Bauern zu verbessern statt durch Malen, besessen. Ursula und Mathis können sich nicht mehr verstehen. Mathis drängt Ursula, das Verborgene zu fassen und eigene Wege zu gehen, ohne von den Plänen der Anhänger Luthers zu wissen. Ursula ist entsetzt, entscheidet sich dann aber für den Kardinal. Ihr Vater und die anderen Anhänger Luthers haben von der Begegnung der beiden nichts mitbekommen.

Mathis zieht in den Krieg und muss plötzlich gegen die Bauern kämpfen, da er deren Plündereien, Gewalt- und Greueltaten ebenso verabscheuenswürdig hält wie zuvor das Verhalten der Adligen gegen die Bauern. Und das rettet ihm wieder das Leben. Während Schwalb im Kampf fällt, setzt sich die Gräfin von Helfenstein für Mathis ein, weil er sie zuvor vor den Bauern beschützt hat. Mathis hat nun endlich begriffen, dass seine Bestimmung im Malen liegt, nicht im Kämpfen. Die verwaiste Regina nimmt er mit nach Hause. Die bewegte Musik gibt Mathis' Seelenzustand wieder und nicht das Ende des Schlachtgetümmels. Dafür wäre die Musik insgesamt zu friedlich.

Währenddessen tobt es in der Martinsburg in Mainz, den Räumlichkeiten des Kardinals. Harte Klänge spielen den Streit zwischen dem Capito und dem Kardinal ein. Capito hat dem Kardinal seinen Vorschlag zur Lösung des Dilemmas unterbreitet. Das macht den Kardinal wütend. Das psychologische Spiel zwischen Kardinal Albrecht und seinem Rat wird durch die Musik sehr fein ausgemalt. Entschiedenheit, Vehemenz, Hastigkeit und überzeugung wechseln einander ab. Capito glaubt nicht wirklich Luthers Lehre, er ist nur dankbar, einen Kanal gefunden zu haben für seine Zweifel an der gängigen Kirchenlehre. Der Streit flacht ab, ganz zahm einigen sich der Kardinal und Capito, dass die erwählte Frau den Kardinal begrüßen soll.

Das Gespräch zwischen dem Kardinal und Ursula ist nicht weniger spannend gestaltet. Zunächst macht sich mit tiefen langen Tönen tiefes Staunen breit und bewegt mit halbtaktig sich wiederholenden kurzen Wendungen die Gemüter, dann pocht mit einem durchgehenden Rhythmus dadamm - dadamm - dadamm usw. das Herz vor Aufregung wild. Als der Kardinal Ursula schließlich erklärt, er habe das Schauspiel durchschaut, ändert sich der Charakter. Rasche Notenwerte und ein Triller zeigen Ursulas Zittern, der Kardinal hat erkannt, dass sie ihn nicht liebt. Ursula steigert sich in einen ähnlichen Eifer wie vorher Mathis. Um Luthers Lehre weiter zu bringen, wäre sie die Ehe mit dem Kardinal eingegangen. Und sie hält wie Mathis den Kardinal für mächtig genug, Luthers Anhänger sicher leben zu lassen und die Glaubensstreitigkeiten im Volk schlichten zu können. Um Friede im Volk stiften zu können, ist sie zu diesem Opfer bereit. Aber damit erreicht sie den Kardinal nicht. Im ruhigen, klaren Brustton der überzeugung erklärt er Riedinger und Capito, er gebe sein Amt auf, um als Eremit für die Welt da sein zu können. Das, was Luther aufgegeben hat, sein Leben als Eremit, wählt der Kardinal für sich. Vielleicht sogar stellvertretend für Luther. Ursula wählt für sich ein Leben in der Welt, als Ledige, als Nonne eines Bettelordens, um so für die Welt da sein zu können. Der Kardinal segnet sie, dann trennen sich ihre Wege.

Das sechste Bild ist eine Mischung aus Handlung und Lebendigmachung von Ausschnitten des Isenheimer Altars. Es nimmt etwa ein Viertel der gesamten Oper ein. Sehr komplex dabei die Musik, sie gibt den permanenten Wechsel zwischen Bilderwelt und den tatsächlichen Handlungssträngen wieder, etwa Regina und Mathis auf dem Weg nach Mainz, Regina in ihrem Schock über den Tod ihres Vaters. Ständige musikalische Rückverweise an das Geschehen bis zu den Kampfhandlungen. Schließlich können Mathis und Regina nicht weiter, sie legen sich zum Schlafen hin, Regina singt sich selbst zu dem Lied "Es sungen drei Engel" in den Schlaf. Die Musik übernimmt mehr und mehr das Lied, wird schließlich vollständig davon bestimmt. Damit wird ein Teil eingeleitet, in dem zwei Bilder aus dem Isenheimer Altar szenisch dargestellt sind. Diesen Teil will ich hier aussparen, er nähme zu viel Raum ein. Hindemith hat das Meisterwerk Grünewalds ebenso meisterhaft szenisch und musikalisch umgesetzt.

Die Handlung setzt wieder ein in Mainz. Mathis hat in einem einzigen Schaffenswahn sich beim Malen völlig verausgabt, dass er schließlich völlig erschöpft liegen bleibt. Regina, die bei Mathis lebt, schläft ebenfalls. Ursula wacht über beider Schlaf. In der Biographie endet Mathis' Schaffen mit den Bauernkriegen, danach hat er im tatsächlichen Leben nicht wieder richtig gemalt. Hindemith hat das etwas anders dargestellt. Mathis, der seine eigentliche Berufung wieder entdeckt hat, hatte mit dem Schaffenswahn nachzuholen versucht, was er durch die Teilnahme an den Kämpfen verloren hat. Die Musik gibt mit einem kurzen Motiv über eine Quinte etwas Endgültiges vor, die Tremoli lassen eine bedrohliche Atmosphäre entstehen. Eine Quinte ist ein fünfstöckiger Abstand zwischen zwei Tönen, also fünf ganze Töne übereinander ergeben eine Quinte. Die Quinte gehört zu den Intervallen, die über jedem Ton als sogenannte Obertöne mitschwingen und war und ist darum ein wichtiges Intervall. Es hat festigenden und endgültigen Charakter. Dass Ursula von Kreuzweg und von Entscheidung auf Leben und Tod spricht, macht die Musik noch düsterer. Das Schicksal klopft mit kurzen Notenwerten immer wieder an. Als Regina erwacht, bleibt die lauernde, düstere Stimmung. Regina, die vor der Kampfszene, in der ihr Vater starb, so blumig, verträumt, verspielt war, bleibt hier sehr bedeckt, streckenweise fast tonlos. Die Posaune beginnt, wie im Engelkonzert zu Beginn der Oper, das Lied "Es sungen drei Engel" zu intonieren. Regina singt schließlich dieses Lied mit abgewandelter Melodieführung auch. Die Abwandlung steht für ihren Tod, denn mit dem Lied beschließt sie ihr Leben.

Nach Reginas Tod gibt es nicht mehr viel zu sagen. Alles Düstere ist vorüber, es blüht für einen Moment und bewegt die Gemüter.

Dann kreist die Musik um wenige Töne, es ist alles entschieden, ruhig und bestimmt. Mathis gibt sein Malerdasein auf, verlässt Mainz und es ist abzusehen, dass auch er nicht mehr lange lebt. Sehr ruhig und besinnlich schließt die Oper.

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XVIII. Die Hamlet-Maschine

von Wolfgang Rihm

Wolfgang Rihm wurde 1952 geboren.

Es spielen mit:

Hamlet - als alter Schauspieler, als Schauspieler wie Hamlet, als Sänger -,
Ophelia,
drei Ophelia-Doubles - Marx, Lenin, Mao, die drei "nackten Frauen" -,
eine Stimme aus dem Sarg,
vier Lachende,
drei Schreiende.

Außerdem ein vierstimmiger Chor, ein Sprechchor, Bewegungschor, Leichen, Doubles - stumme Rollen, z.B. Horatio, der "Engel mit dem Gesicht im Nacken" und weitere.

Tonband wirken mit: die Stimmen der Darsteller, Chöre - an einer Stelle mit großer Orgel -, Kinderstimmen, Geschrei - historische Aufnahmen von großen Kundgebungen, Sportplätzen, Aufmärschen, Katastrophen etc. sowohl echt als auch simuliert.

Rihms Musik kann nicht in irgendeine Tradition gestellt werden. Und soll sie auch nicht. Wolfgang Rihm hat gesagt, das Vorhandensein von Musik sei bereits Tradition von Musik. In der gesamten Kunst des ausgehenden XX. Jahrhunderts zeigt sich eine große Stilvielfalt. In der Bildenden Kunst ist die Collage eine Paradeform zeitgenössischer Kunst und auch die Musik kann nicht mehr nach einem Einheitsschema betrachtet werden. Also nicht mehr die Schublade, in die eingeordnet wird und werden kann.

Für Rihm soll die Musik, die er schreibt, ein Spiegel für den Betrachter werden, in dem er auf sich selbst stößt. Musik soll Zustände widergeben. Und soll mit dem eigenen Ich, der eigenen Identität konfrontieren. Es geht um das Menschliche. Dargestellt werden soll der Mensch in seiner ganzen Menschlichkeit. Darum können die Personen fast entmenschlicht und ohne individuelle Persönlichkeit gezeigt werden, ohne die individuelle Lebensgestaltung dabei zu übergehen. Der Mensch wird so allgemein gezeigt, dass es gleichgültig ist, wer sich dahinter verbirgt, und wird so menschlich gezeigt, dass man glaubt, den Nachbarn oder sogar sich selbst darin zu sehen. Letztlich bleibt jedes Individuum austauschbar, wobei dem Hörer die individuelle Identifikation ermöglicht werden soll.

Das Musikstück wird geprägt von der Spontaneität des Komponisten und vom Verstehen und Erfassen des Hörers. Das macht nach herkömmlichem Verständnis die Musik formlos, sie hat kein Konzept, das allein vom Komponisten vorgegeben ist. Ähnlich wie bei einem fraktalen Bild multipliziert sich das Klanggebilde chaotisch weiter. Chaotisch meint in diesem Zusammenhang das fraktale Chaos, das nicht form- und gestaltlos bleibt. Und wie bei einem fraktalen Bild empfindet der Zuhörer das Ergebnis harmonisch und verständlich. Das hörbare Ergebnis in der "Hamlet-Maschine" ist ein musikalisches Werk ohne Themen und Motive, ein Werk, das keinen Handlungsablauf beinhaltet, auch keinen zugrunde gelegt hat und keinen weitergibt.

Manche Texte sind für Rihm zu sehr Musik, die sich verständlicherweise nicht mehr vertonen lassen. Vielleicht wäre eine Untersuchung der Texte, die Rihm als "Reine Musik" betrachtet und demzufolge nicht mehr vertont werden und solcher, die er als Grundlage seiner Werke heranzieht, interessant, um einiges über Rihms kompositorisches Schaffen zu erfahren. Bisher bin ich diesem Gedanken nicht nachgegangen. Fragmentierung von Texten scheint für Rihm die geeignete Möglichkeit zu sein, einen geeigneten Text in Musik umsetzen zu können. Die Collage also in musikalischer Form. Da die Musik keine motivische Arbeit kennt, sich Geschehen an Geschehen reiht ohne Rücksicht auf thematische Arbeit, wird der Text ebenfalls aufgegliedert. Und wie der Text fragmentarisch behandelt wird, wird auch die Musik fragmentiert. Wichtig sind die momentanen Zustände und nicht ein formklarer Ablauf nach Norm.

Das Orchester ist bei Rihm ein geräusch- und klangerzeugender Apparat und hat keine erzählende Funktion. Ebenso sind die einzelnen Stimmgruppen keine Träger bestimmter Charakteristika, sondern tragen lediglich zur facettenreicheren Klangfarbe bei. Es werden momentane Situationen aber keine Stimmungsbilder dargestellt, die in einem Moment so, im nächsten Moment anders gestaltet sind. Momentane Realitäten werden dargestellt, die mit dem Vorangegangenen und dem Nachfolgenden wohl eine Beziehung haben, aber ebenso gut davon getrennt werden können. Es ist kein Ablauf-Drama verwirklicht und es ist unmöglich, einen Handlungsablauf zu erstellen.

Die Hamlet-Maschine ist als Musiktheater bezeichnet und wurde von 1983 bis 1986 geschrieben. Die Darsteller müssen sowohl gesanglich als auch Schauspielerisch in Aktion treten. Rihm bindet sein Werk aber auch in das ãTheater der GrausamkeitÒ ein, das im XX. Jahrhundert oft für heftige Diskussionen um Inszenierungen und Aufführungen gesorgt hatte.

Der Inhalt der Hamlet-Maschine sind Texte von Heiner Müller (er lebte von 1929 bis 1995), die Rihm als Libretto umgestaltet hat. Shakespears Drama Hamlet ist reduziert auf eine Interpretation und Auswertung des Geschehens um Hamlet. Mit brutaler Direktheit wird auf Einzelheiten im Drama hingewiesen, werden die Darsteller aus dem Drama ins Rampenlicht gezerrt.

Heiner Müllers Texte zeichnen sich durch brutalste Direktheit, grausamste Offenheit und schärfste Vergleiche aus. Ein Theater der Grausamkeit. Es war die Zeit, in der Instrumente auf der Bühne zerschlagen wurden, rohes Fleisch gezeigt wurde und die Darsteller sich splitternackt zu zeigen begannen. Es geht in jedem Fall um das allzu Menschliche, um klare Darstellung des menschlichen Charakters. Und bedenkt man, dass der Mensch gerade im XX. Jahrhundert in vielen Fällen brutalste Verbrechen begangen hat, ist das zeitgenössische Theater und die zeitgenössische Musik harmlos. Mit einer Oper oder mit einem Kunstwerk kann der Künstler Kritik an seiner Zeit üben. Wolfgang Rihm und Heiner Müller haben mit ihrem Werk deutliche Kritik geübt.

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Der aktuelle Titel von Petra Roeder:

Saxa et Libri, Bd. 10: Musik im Mittelalter 

  
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